Ist nun aller Welt Erlösung da?
Bachs vorösterliche Johannes-Passion - drei Aufführungen in Stuttgart und Ludwigsburg
Stuttgarter Zeitung, 30.03.2002
In Johann Sebastian Bachs 1724 uraufgeführter Passionsgeschichte nach Johannes gibt es einen unerhörten Moment, an dem man immer wieder staunt, zögert, zurückschreckt und sich fragt: Ist das so? Ist das so einfach? Eben noch hatte der Tenorevangelist - unspektakulär traurig, wie berichtend - den Tod Jesu erzählt ("Und neiget das Haupt und verschied"). Eben noch hatte der Alt in der Arie "Es ist vollbracht" von einem umfassenden Ende, einer "Trauernacht", gesungen, dass es einem das Herz zusammenzieht. Und sogleich, eine Nummer weiter, in der Bassarie "Mein teurer Heiland", unmittelbar nach dem Bericht vom Tod Jesu, zieht bereits wieder eine, wenn auch gedämpfte Freude ein: Triller in der Singstimme und im obligaten Violoncello, der parallel geführte Choralsatz verkündet piano die zentrale Botschaft ("Jesu, der du warest tot"), während der Solist noch Fragen stellt - "Kann ich durch deine Pein und Sterben das Himmelreich ererben? Ist aller Welt Erlösung da?" Um diese bei Bach selbst aufleuchtenden Brüche kommt man nicht herum beim Hören des Werkes, das vor Ostern in vielen Kirchen in und um Stuttgart gespielt wurde; drei Aufführungen haben wir uns angehört.
Eine beeindruckende Aufführung gelang dem Jungen Kammerchor Baden-Württemberg zusammen mit den Solisten und der Sinfonietta Tübingen unter der Leitung von Jochen Woll in der Stuttgarter Leonhardskirche. Das lag vor allen Dingen an Andreas Weller, der als Evangelist (und in den Tenorarien) über alle Möglichkeiten verfügt, den Passionstext spannend und nachvollziehbar zu machen, mit einer schönen, mühelosen, gut artikulierenden Stimme, die neutral berichten, aber auch klagen kann wie beim Weinen des Petrus über seinen Verrat. Bach hat dieses "bitterliche" Klagen in viele Figuren des Werkes übersetzt, besonders plastisch in der Altarie "Von den Stricken meiner Sünden", in der sich die zwei solistisch geführten Oboen chromatisch aneinander reiben, sich in den Linien verstricken, bis die Sünde zum musikalisch greifbaren Bild wird. Die Bläser der Sinfonietta Tübingen spielten das mit großem, sinnlichem Ton.
Die Altistin Michaela Singendonk kam dem Format Wellers noch am nächsten; das Timbre so weit abgedunkelt, dass es den Text nicht verschluckt, schön und tragend genug, um die Arie "Es ist vollbracht" wie Balsam wirken zu lassen für den Schmerz der Passion. Erfrischend Markus Müller als Pilatus, der den Statthalter als ungeduldigen Herrscher präsentierte, den es nervt, dass er in eine Sache hineingezogen wird, die ihn nichts angeht. Jochen Woll hatte seinen Chor zu großer Genauigkeit herausgefordert, wodurch kleine Entdeckungen möglich wurden wie die abgesetzte Portatoartikulation der Schlusszeile "Dich hast geblut"t zu Tod" aus dem Choral "In meines Herzens Grunde": So betont, konnte man die einzelnen Blutstropfen beinahe sehen. ...
Von Stephan Turowski