Ein Wagnis? Wie wunderbar!

Gänsehaut und Standing Ovations bei der Jazz-Missa 2001 am Sonntag

Südwestpresse, 29.04.2003

HORB (ari). „Wagen Sie mit uns Kirche und Jazz!“ So warb das Projekt Zukunft für die Jazzmesse am Sonntagabend in der Auferstehungskirche auf dem Hohenberg. War es wirklich ein Wagnis? Sagen wir einfach: Die Jazz-Missa 2001 von Peter Schindler mit dem Jungen Kammerchor Baden Württemberg und dem Ensemble Pipes und Phones war wunderbar!


Eine Gemeinsamkeit zwischen Kirche und Jazz-Missa findet sich im Entstehungsdatum: Beide nahmen 2001 Form an. Peter Schindler, Komponist und Organist aus Stuttgart, hat scheuklappenfrei aus der Musikgeschichte herausgepickt, was seinem hohen Anspruch Genüge tat. Einem Anspruch, dem sich der Junge Kammerchor Baden Württemberg unter der Leitung von Jochen Woll als überaus würdig erwies. Mehrstimmig eröffnete er die Messe in bester Kirchenchor-Tradition mit imposanter Sangeskunst. Pipes & Phones setzen mit prägnantem Jungle-Rhythmus von Schlagzeuger Markus Faller ein, werden übertönt von Peter Lehels jubilierender Klarinette und dann dringen von hinten auch noch Orgelklänge von Schindler selbst vor. Sacht setzen sie sich durch, lösen den Chor von Raum und Zeit, lassen durch ihn Gregorianische Mönche in den Sinn kommen. Nach und nach pendelt sich der 16-köpfige Chor mit Christe eleison ein, Saxophonist Lehel schraubt sich immer weiter empor, mit Bedacht setzt wieder der Chor ein - und ein seliges Lächeln des Dirigenten dankt den Sängern für die präzise Intonation.

Rasant im Tempo lassen Tenor und Bass keine Ruhe einkehren, greift sich die lateinischen Textzeilen, Alt und Sopran stimmen ein, mit Schlagzeug, Orgel und Klarinette bricht Jubel lost, steigert sich im Gloria zum Kräftemessen zwischen der Leichtigkeit des Saxophons und der Schwere des Schlagzeuges, bevor die Orgel wieder ganz dem Chor zuspielt und dessen tragende Rolle mit hübschen Variationen hervorhebt.

Jazz kommt in diesem Stück als Tiger daher. Stolz, geschmeidig, seinem eigenen Rhythmus folgend, zielstrebig wie ein Raubtier und schmiegsam wie ein Kätzchen. In Sicherheit wiegend und dann ungestüm vorpreschend, jede Improvisation ein Tatzenschlag mit Kalkül und Berechnung.

Pantomime allererster Güte dazu liefert Dirigent Woll. Da ist jedes Zucken der Augenbraue, jedes Vorstülpen der Unterlippe, jedes Innehalten des aufgerissenen Mundes zum Schrei ein sichtbares Zeichen der Bedeutsamkeit, die von dieser Jazz-Missa ausgeht. Ist der Chor ja schon eine Klasse für sich, sensationell gut auch die Musiker, so wird der Dirigent zum Erlebnis der ganz außergewöhnlichen Art. Ein Mann mit ebenso vielen Gesichtern, wie das Werk Stilrichtungen hat. Beide getragen von ungeheurer Empfindsamkeit, die Größe vermittelt - und abverlangt. Zu hören ist nicht nur Mönchsgesang, Spätromantik, Neoklassik, Moderne und Jazz, sondern auch die Tändelei dazwischen, die harmonisch einen ganz eigenen Charakter schafft.


In der Hälfte des zweistündigen Konzerts kann man sich der Gänsehaut-Schauer nicht mehr erwehren, sie kommen in regelrechten Attacken, laufen eiskalt und wohlig ein um's andere Mal über den ganzen Körper. Komponist Peter Schindler an der Orgel beschert Klänge, die man nie zuvor wahrgenommen zu haben scheint. Süßer und wärmer wie im Duett von Saxophon und Orgel vermag Melancholie kaum zu sein. Musik, die nicht zum Beklatschen taugt - Musik, vor der man sich nur verneigen kann.


Gleich, so meint man, hebt Woll mitsamt dem Chor ab, es kommt ein Moment, in dem man sich über gar nichts mehr wundern würde, etwas Geniales blitzt durch und lässt an alles glauben. Und doch bleibt alles im Rahmen, der Tiger zieht sich zurück, kurz nur, gewährt allen eine Verschnaufpause und als es dann - Hosianna - nach zwei Stunden zu Ende geht, da erheben sich alle. Standing ovations für die Jazz-Missa 2001. Gloria als Zugabe. Und wie schade, wäre man dieses Wagnis nicht eingegangen. Denn Wunderbares, so zeigte sich, birgt Anspruch, Mut und Glauben.