Neu gehört - die Londoner Fassung als verinnerlichte Version
Der Weg führt nach Innen: Der Junge Kammerchor Baden-Württemberg und das Klavierduo Grau/Schumacher führten das Brahms-Requiem in der Listhalle auf
Reutlinger Nachrichten, 19.10.2004
Der Blick ins Programmheft ließ vermuten, dass die 30. Saison des Reutlinger Kammermusikzyklus mit einem Ausrufezeichen beginnen würde. Wo sonst Quintettbesetzung den kammermusikalischen Superlativ bildet, kündigte sich Sonntagabend mit Brahms Deutschem Requiem Großes an. Doch hatten sich der (knapp 40-köpfige) Junge Kammerchor Baden-Württemberg und sein Leiter Jochen Woll dafür entschieden, das Brahms-Requiem nicht - wie gewohnt in der Orchesterfassung aufzuführen, sondern in der - von Brahms selbst stammenden - Londoner Bearbeitung für Klavier zu vier Händen. Das großformatig angelegte Requiem unter diesen veränderten Vorzeichen "neu" zu hören, als ein Werk von intimem Grundzug, schien denn auch die Absicht der Ausführenden gewesen zu sein.
Andreas Grau und Götz Schumacher, denen die Bühne zunächst allein gehörte, stellten bereits die Weichen für diese introvertierte Haltung und verdeutlichten mit Kurtágs Bearbeitungen Bachscher Choralvorspiele, dass der Weg nach Innen führt. Grau und Schumacher begreifen Kurtágs Bach als tiefsinnige Erleuchtungs-Musik. Die Wirkung, die ihr Spiel dabei entfaltet, ist von einer seltenen Eindringlichkeit. Weil in der schlackenlosen Schlichtheit des Klangs, in der auserlesenen Akkuratesse des Anschlags, in der feinsinnig ausdifferenzierten Balance des Zusammenspiels Versenkung und Geistesgegenwart, Tiefe und Helle, gleichermaßen unmittelbar präsent sind, hat Graus und Schumachers spektakulär-kongeniales Spiel etwas geradezu Philosophisches.
Brückenschlag
Wenn beide auf diese beglückende Weise wie mit einer Stimme sprechen, scheint die Welt nur ihnen zu gehören. Dass dann der Brückenschlag von Bach zu Brahms so bruchlos gelingen konnte, war gewiss dem Umstand zu verdanken, dass der vermeintliche Verlust des sinfonisch-vielfarbigen, bedeutungsvollen Orchesterklangs von Jochen Woll für seine Brahms-Deutung fruchtbar gemacht werden konnte. Wer freilich in Brahms Requiem bisher das eindringlich An-Sprechende der Aussagen zu schätzen gelernt hatte, die unnachahmliche Kraft des Komponisten, trostloses Leid, aber auch linden Trost unmittelbar zu vergegenwärtigen, der musste sich zunächst einmal einfinden in die von Jochen Woll vorgegebene kontemplative Hör-Schiene.
Diskrepanzen zeitigte dieser Interpretationsansatz freilich dann, wenn dieser Gestus der Verinnerlichung gleichgesetzt wurde mit unnötiger Verlangsamung. Die Musik schien mitunter - etwa beim Trauermarsch des zweiten Satzes, auch im fünften Satz - vor lauter Ergriffenheit fast stehen zu bleiben.
Schleppend, schwerfällig und allzu schwermütig war da manches und ging auf Kosten einer Innenspannung, die den Werkzyklus hätte zwingender zusammenhalten können. Gleichwohl eröffnete die Wendung ins Apart-Introvertierte den Blick auf die Stärken des Chores, die im Detail, besonders in den dynamischen Abstufungen und der von Woll behutsam nachgezeichneten, klaren Linienführung zu finden waren.
Bemerkenswert stimmig
Die Solisten Sabine Götz (mit glockenheller Leichtigkeit) und Ekkehard Abele (mit kultivierter, jedoch zu neutraler Stimmführung) sowie das Duo Grau/Schumacher (eigene Klavierfarben entdeckend, mitunter etwas reserviert begleitend) trugen ihren Teil dazu bei, dass Brahms Botschaften eigentümlich, aber bemerkenswert stimmig "neu" zu hören und entdecken waren.
von RAFAEL RENNICKE